Erinnerungen an die zweite Klasse Schlingensief
von Christian Retschlag
August 2010
Ein Samstag, Mitte August. Der Sommer hat seinen Höhepunkt überschritten. Vierzehn Tage Schwedenurlaub gehen gerade zu Ende. Ein Ferienhaus in Schwedenrot im Nirgendwo an einem See mit einem kleinen Ruderboot. Das gegenüberliegende Ufer ist schon Norwegen. Zu zehnt haben wir hier die letzten zwei Wochen verbracht. Eine Gruppe von Kunststudent*innen. Nach zwei Wochen Abgeschiedenheit verbringen wir den letzten Tag in Göteborg. Sightseeing und Warten auf die Fähre, die irgendwann nachts ablegt. Ich erinnere mich an eine Straße mit Pflastersteinen bei unseren Autos. Einen Baum, unter dem wir parken. Kurz bevor wir in die Autos steigen, um zur Fähre zu fahren, bekomme ich eine SMS von einem Freund: Schlingensief ist tot. Ich zeige erst Imke die SMS und dann Doreen. Zusammen hatten wir das Kunststudium 2008 begonnen und waren seit einem halben Jahr Teil der zweiten Klasse Schlingensief. Tränen fließen, während wir auf die Fähre warten. Irgendwann nach dem Sonnenuntergang stehen wir auf dem Deck der ablegenden Fähre. Die Dämmerung liegt hinter uns und eine kühle Brise zwingt uns in den Bauch des Schiffes. Wir liegen wie alle auf den Gängen und versuchen zu schlafen. Der Urlaub ist vorbei.
April 2010
Zum ersten und einzigen Mal kommt die zweite Klasse Schlingensief in Berlin zusammen. Die Organisation der Klasse ist ein Durcheinander. Im Januar hieß es noch: macht euch bereit, Ende März geht es nach Burkina Faso. Schnell beantrage ich einen Reisepass und lasse mich gegen Hepatitis und Tollwut impfen. Reisevorgaben. Doch der Bau des Operndorf Afrika in Burkina Faso ist hinter dem Zeitplan. Die Reise wird verschoben. Stattdessen lädt uns Christoph zu den dreiwöchigen Proben von Via Intolleranza II ein. Offiziell als Bühnenbildassistenz.
Die Probebühne ist im ehemaligen Rathaus Weißensee. In der ersten Woche, bevor die Schauspieler*innen aus Burkina Faso anreisen, helfen wir beim Aufbau der Bühne. Während die Theaterleute und wir bereits am Vormittag anfangen, kommt Christoph mittags zu den Proben. Alter Volvo, leichter Mantel und Eastpak Rucksack. Am Ende der ersten Woche wird das Bühnenbild überworfen. Spontan kommt von der Volksbühne ein großer Glaskasten. Christoph gefällt das neue Bühnenbild, doch könnte der Glaskasten nicht noch ein paar Meter weiter hinten stehen? Irgendwer von den Theaterleuten: Christoph, das geht nicht. Der ist zu schwer. Zehn Minuten später verschieben wir den Glaskasten.
Direkt neben der Probebühne haben die Theaterleute ein improvisiertes Büro, während wir ein Stockwerk drüber mit den Bühnenbildner*innen arbeiten. Mal sollen wir Puppen bauen, die von Louise Bourgeois inspiriert sind, mal „afrikanische Masken“. Ich fahre öfters mit dem Auto der Regieassistentin durch Berlin, um Dinge zu besorgen und eine Schauspielerin abzuholen.
Wenn Christoph im Haus ist, merkt man das sofort. Es gibt da so eine Energie. Alles wird hektisch. Die Regieassistentin ist überfordert und wird nach ein paar Tagen degradiert. Während wir draußen auf dem Parkplatz in der Sonne sitzen. Eine Reihe großer in den Himmel ragender Pappeln säumt die eine Seite vom Parkplatz. Auf der anderen Seite der Bäume ist ein kleiner Supermarkt. Warten auf neue Aufgaben, auf Christoph, auf die Proben.
Ob wir bei den Proben dabei sein dürfen, entscheidet die Regieassistenz. Entweder heißt es: Christoph hat Ja gesagt – aber verhaltet euch ruhig. Oder: Geht gerade nicht. Wenn wir zugucken dürfen, sitzen wir in einer Ecke des Raumes und sind stille Beobachter.
Ich bin mir nicht sicher, ob Christoph überhaupt gefragt wird.
Man sieht ihm die letzten Jahre deutlich an. Aber ich bin beeindruckt von seiner Energie. Die Theaterleute sagen: Christoph ist ruhiger geworden. Damals dachte ich, Christoph ist einfach sehr temperamentvoll. Heute denke ich eher, dass er viel schneller war als alle im Raum. Was die Arbeit mit den Schauspieler*innen aus Burkina Faso, dem Übersetzer und den oft sehr vorsichtig agierenden Theaterleuten nicht einfacher machte. Mal wird ihm das Licht nicht schnell genug gesetzt, er springt auf und hastet auf die Strahler zu. Die Theaterleute schreien: Christoph, das ist zu schwer. Christoph ruft: Ihr müsst mir helfen. Ich kann das nicht mehr alleine.
In einer Szene begleitet ein Schauspieler aus Burkina Faso den Pianisten von der Volksbühne auf seiner Trompete. Irgendwas passt nicht. Christoph ruft, gibt Anweisungen. Niemand reagiert. Der Übersetzer ist nicht da. Christoph springt wieder auf. Kurz treffen sich unsere Blicke und Christoph ruft: Christian jetzt mach doch mal. Mein Herz klopft und ich haste über die Bühne und mache. Ich denke: Krass, der kennt meinen Namen.
Irgendwann in der letzten Woche kommt Christoph mit einer Kiste Sekt. Gläser werden verteilt und alle versammeln sich. Es ist dunkel auf der Probebühne. Christoph erzählt von seinem letzten Arztbesuch. Die Werte sind gut, der Krebs besiegt. Und dann: „Ich habe heute morgen einen Anruf bekommen. Wir fahren nächstes Jahr nach Venedig. Deutscher Pavillon.“ Alle jubeln, die Gläser klirren. Die Proben sind fast abgeschlossen. Die Stimmung ist gut.
November 2019
Ich bin mit meiner Band für eine Aufnahmesession in Berlin. Das Studio ist im ehemaligen Rathaus Weißensee. Während wir mit den Instrumenten auf den Lastenaufzug warten, schaue ich mich vorsichtig um. Wo war nochmal der Eingang zur Probebühne? Der Parkplatz sieht kleiner aus, als in meiner Erinnerung. Die Pappeln stehen noch zwischen Supermarkt und Parkplatz.
Hannover, Juli 2020
Christian Retschlag
ERINNERUNGEN AN DIE ZWEITE KLASSE SCHLINGENSIEF
2020
Fotografien © Christian Retschlag, 2010